Anwendung der Modelle




Anwendung der therapeutischen Triade (Anamnese, Diagnose und Interventionen) in Therapie und Beratung

Ein Ziel des NTD ist es, das mehr oder weniger latent vorhandene triadische Denken in professioneller Praxis explizit triadisch zu rekonstruieren. Es geht um ein neues triadisches Denken von bewährten vorhandenem Erfahrungswissen und von bekannten Modellen. Dabei eröffnen sich neue Beziehungen, die auch zu alternativen Aktivitäten anregen können. Bekanntes, mehr oder weniger latentes Wissen, soll in kommunizierbare Modelle gebracht werden.
Das hier gewählte Beispiel sind Beratungen. Das Modell, welches hierauf angewendet wird, ist das
elementare triadische Prozeßtypenmodell (linear, parallel, zirkulär).

Linearprozesse

In der psychologischen und medizinischen Beratung werden meist drei Phasen unterschieden, die nacheinander ablaufen: Anamnese des Zustandes des Klienten/Patienten; Diagnose mit Hilfe der professionellen Modelle/Programme und therapeutische Behandlung. In der Organisationsberatung wird ähnlich zwischen der Erhebung des Ist-Zustandes, der Diagnose und der Intervention bzw. einem Maßnahmeplan unterschieden.
Schon sprachlich drückt sich die asymmetrische Behandlung der drei Phasen aus: Die dritte Phase, 'Therapie' wird pars pro toto genommen, um den Beratungsprozeß insgesamt zu bezeichnen. Prämiert wird die therapeutische Behandlung bzw. der Maßnahmeplan, der als Ergebnis der Beratung von Klienten/Organisationen entsteht.
Für die Phasen sind spezielle Aktivitäten aller Beteiligten konstitutiv. Sie lassen sich insofern als Prozeßkonglomerate verstehen.

Dieses klassische linear-sequentielle Prozeßmodell läßt sich wie folgt visualisieren:
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Abb.: Beratung als linearer Prozeß
Nur wenn alle drei Phasen durchlaufen sind, sind die Bedingungen eines Beratungsprozesses nach professionellem Standard erfüllt. Nur wenn sie in der genannten Reihenfolge nacheinander abgelaufen sind, war dieser erfolgreich, so die übliche Lehrmeinung. Es gibt eine Idealform des linearen Phasenmodells. Jede Phase wird deshalb in der Ausbildung von Beratern einzeln behandelt. Die Gewißheit, hier trennen zu können, wird durch das lineare Denken des Ablaufs bestärkt.
Die unterschiedliche Dauer der einzelnen Phasen in konkreten Beratungsprozessen kann durch die unterschiedliche Ausdehnung der einzelnen Phasen und durch die Skalierung der x-Achse ausgedrückt werden. Dies geschieht beispielsweise in den ‚Zeitleisten’, die im Projektmanagement üblich sind. Das Ende der einzelnen Phasen wird durch die sogenannten ‚Meilensteine’ markiert. Man kann sie zur Skalierung der y-Achse (Phasenachse) verwenden.

Rückkopplungsprozesse

Nun weiß jeder Praktiker, daß einigermaßen komplexe Beratungsprozesse diese Phasen mehrfach durchlaufen. Um diese Realität zu modellieren, reichen lineare Prozeßmodelle nicht aus. Das NTD arbeitet deshalb zusätzlich mit einem zirkulären Prozeßverständnis. Jede Frage in der Anamnesephase kann die Wirkung einer therapeutischen Intervention, also einer Aktivität, die erst für die dritte Phase typisch ist, entfalten. Der Berater schaut, welche Reaktionen seine Frage/Intervention beim Klienten auslöst (Anamnese) und zieht aus den Daten diagnostische Schlußfolgerungen. Diese rekursive Prozeßvorstellung, die sich in den Gliederungen der Lehrbücher weit weniger deutlich zeigt, läßt sich durch ein Endlosband visualisieren.

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Abb.: Beratung als Rückkopplungskreislauf
Die Schlaufen 1, 2 und 3 bezeichnen die (in sich geschlossenen) Phasen Anamnese, Diagnose und Therapie. Im Unterschied zum linearen ersten Modell ist bei diesem Rückkopplungskreis nicht mehr klar zu entscheiden, wo der Beginn und wo das Ende ist. Als ‘Interpunktionsproblem’ wird dieser Sachverhalt schon seit längerem in kybernetischen Interaktionstheorien beschrieben (z. B. bei G. Bateson und P. Watzlawick). Es gibt Sequenzen und auch eine Reihenfolge, aber keinen Nullpunkt der Zeit: Jede Anamnese kann – und sollte auch – als Produkt vorheriger Interventionen verstanden werden
In der Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus hat Gregory Bateson vorgeschlagen, jedes Verhalten nicht entweder als Reiz oder als Reaktion, sondern zugleich sowohl als Reiz als auch als Reaktion und als Verstärkung aufzufassen. (Vgl. Ders.: Ökologie des Geistes, Frankfurt/M. 1983, S. 384 ff.)

Die drei Rückkopplungskreise bleiben nicht unverbunden, sondern sie erscheinen selbst wieder als Komponenten/Phasen der Beratungspraxis. Es gilt, die drei Regelungskreise unter dem Steuerungsziel der jeweiligen Beratung zu verknüpfen. Oder anders: Nur diejenigen Informationen, die für das Beratungsziel/den Kontrakt relevant sind, werden als anamnetische Daten behandelt und gehen dann in die Diagnose ein, nur diagnostische Daten gehen in die therapeutischen Aktivitäten ein. Nur, was als therapeutische Maßnahme genutzt wird, hat diagnostische Qualitäten. Hier gibt es viele Zirkularitäten. Aber man braucht sich in ihnen nicht zu verlieren, bzw. unfruchtbare endlose Regresse befürchten, wenn man das zirkuläre Prozeßmodell nur als eine Möglichkeit ansieht, die jederzeit durch das lineare ergänzt werden kann.

Parallelprozesse

Es gibt nicht nur eine Nacheinander der Aktivitäten und Phasen sondern auch ein Nebeneinander. Immer laufen viele Prozesse zeitgleich ab. Und sie sind keineswegs alle verbunden, brauchen auch nicht synchronisiert zu werden. Mehr Komplexität als mit Phasen- und kybernetischen Kreislaufmodellen allein, kann mit triadischen Prozeßmodellen erfaßt werden, die von der Prämisse ausgehen, daß zu jedem beliebigen Zeitpunkt simultan alle drei Prozeßtypen. im Beratungssystem ablaufen.
Um mit diesem Modell zu arbeiten, ist es also erforderlich, zwischen Prozessen und Prozeßtypen, nämlich den drei Typen: anamnetische, diagnostische und therapeutisch-intervenierende zu unterscheiden. Daneben gibt es weitere Prozesse, die anderen Prozeßtypen angehören, die aber auszuklammern sind. Typenbildung ist in jeder Praxis unvermeidlich; das NTD braucht immer mindestens drei Typen. In Clustern lassen sich Aktivitäten zusammenfassen, die für die Typen exemplarisch sind.
Fast alles Verhalten und Erleben läßt sich sowohl als eine Intervention als auch als Erhebung des Ist-Zustandes sowie auch als Erklärungsversuch (Diagnose) verstehen. Auch dies entspricht den Erfahrungen von Beratern und Klienten. Um diese Erfahrung zu visualisieren, steht das dreischlaufige Knotenmodell zur Verfügung.
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Abb.: Beratung als Parallelprozeß
Das Knotenmodell zeigt den Beratungsprozeß zu einem beliebigen Zeitpunkt. Es drückt die Gleichzeitigkeit von Prozeßtypen aus. Und zwar wird davon ausgegangen, daß zu diesem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit von Berater und Klient gleichmäßig auf die drei Teilprozesse verteilt ist.

Prämierungen paralleler Prozesse

Zwar laufen viele Aktivitäten gleichzeitig ab, aber niemals können Individuen oder soziale Gemeinschaften ihnen eine gleichmäßige Aufmerksamkeit schenken. Es gilt das Prinzip der begrenzten Ressourcen - und zwar sowohl für das Wahrnehmen als auch für das Denken und Handeln der Individuen bzw. der sozialen und kulturellen Akteure.
Legt man das Neue Triadische Denken zugrunde, so kann man sowohl einzelne Sequenzen als auch den gesamten Beratungsprozeß als das emergente Produkt des Zusammenwirkens der drei parallel ablaufenden Teilprozesse ‘Anamnese’, ‘Diagnose’, ‘Therapie’ (in beliebiger Reihenfolge) verstehen. Veränderlich ist die Bedeutung der Teilprozesse am Gesamtprozeß und damit auch die Relationen zwischen ihnen in jedem Zeitpunkt des Gesamtverlaufs. Und dies entspricht wiederum der Alltagserfahrung und ist auch ein Grund, warum lineare Phasenmodelle so leicht akzeptiert werden: In der Tat dominieren zu Beginn einer Beratung die anamnetische Aktivitäten – und wenn sie am Ende noch genausoviel Raum einnehmen, dann stimmt irgend etwas nicht. Diese Gewichtsverlagerung zwischen den Teilprozessen läßt sich graphisch durch die Veränderungen der Größenverhältnisse zwischen den Schlaufen eines Knotens ausdrücken. In der obigen Graphik hätten wir es dann mit einem gleichgewichtigen Zusammenwirken der drei Teilprozesse zu tun. Das Ergebnis, z. B. eine Momentaufnahme in einem empirischen Beratungsprozeß, wäre gleichermaßen durch anamnetische, diagnostische und therapeutische Elemente strukturiert. Ein solcher Fall ist die absolute Ausnahme. Meist überwiegt einer der Teilprozesse und drückt dem emergenten Ergebnis ‘Beratungsprozeß’ seinen Stempel deutlicher auf als die übrigen. Es kann mal mehr oder weniger ‘gedeutet’, mal stärker interveniert, mal weniger nachgeforscht werden. Dieses Ungleichgewicht werden durch asymmetrische Knoten visualisieren.

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Abb.: Die Prämierung der ‘Diagnose’ im therapeutischen Parallelprozeß
In dem asymmetrischen Knotenmodell wäre der Beratungsprozeß zwar auch durch die drei Teilprozesse determiniert, aber insgesamt dominieren die diagnostischen Anteile. Die Anamnese tritt hinter die Interventionen zurück.

Hinter dem Parallelprozeßmodell steht zum einen die erwähnte ökologische Grundannahme begrenzter Ressourcen. Das Band ist zwar endlos (im Sinne von ‘geschlossen’), aber es ist endlich. Es mag sich etwas dehnen, aber im Prinzip ist das Wachstum eines Teilprozesses nur auf Kosten der anderen zu erreichen.
Die zweite Grundannahme lautet, daß jede Praxis, jeder Praktiker und jeder außenstehende Betrachter Ungleichgewichte zwischen den nebeneinander herlaufenden Prozessen und Prozeßtypen erzeugt bzw. beobachtet. Ein Teilprozeß wird stärker in Anspruch genommen als der andere, der eine mehr beachtet als der andere, der dritte gegenüber dem zweiten abgewertet usf. Die Untersuchung von konkreten Beratungsabläufen zeigt, daß sich die Relationen zwischen den Teilprozeßtypen beständig ändern – und am Ende bei gelungenen Ex¬emplaren durchaus eine Abfolge der Schwerpunkte festzustellen ist, wie sie in der ersten, linearen Abbildung modelliert wurde. Dieses Ablaufschema erweist sich aber zu jedem beliebigem Zeitpunkt als das Produkt des Zusammenwirkens aller drei Prozeßtypen.

Die Mehrdeutigkeit der Aktivitäten und deren Klärungen

Alle Objekte der Praxis sind multivalent, mehrdeutig. Das triadische Prozeßtypenmodell erlaubt es, die Mehrdeutigkeit der Aktivitäten zu ordnen und zu begrenzen. Es fordert die Beteiligten und die Betrachter/Forscher und sonstige Reflektoren der Beratungspraxis auf, die Aktivitäten gemäß der der drei Typen zu kodieren. Im Prinzip lassen sich alle Aktivitäten/Prozesse sowohl unter dem Gesichtspunkt der Anamnese als auch der Diagnose und Intervention behandeln.
Traditionellerweise spricht man hier von 'Ambiguitäten' oder 'Ambivalenzen'. Das NTD sieht vorab keine Veranlassung die Mehrdeutigkeit auf Zweideutigkeit zu reduzieren - wohl wissend, daß dies durch die elementare Logik nahe gelegt wird. Es gibt solche Fälle, aber diese sind für den Triadiker von geringerem Interesse.
Bei der Anwendung des Parallelprozeßmodells wird vermieden, den Beratungsprozeß - als Konglomerat gleichartige und artverschiedener Prozesse - jeweils auf einen einzigen Prozeßtyp, ein einziges Handlungs- und Wahrnehmungsprogramm zu reduzieren. Alle Beteiligten – und auch außenstehende Betrachter – können berücksichtigen, daß z. B. Fragen, die der Anamnese dienen, zugleich auch eine Intervention sein können.
In den drei Phasen haben die Beteiligten gleiche und unterschiedliche Aktivitäten zu erbringen. Gleiche Aktivitäten können unterschiedliche Bedeutungen erhalten, wenn sie von unterschiedlichen Akteuren erbracht werden.
Da jede Beratungspraxis aus mindestens zwei autonomen Kommunikatoren, nämlich Klient und Berater, aufgebaut sind, sind immer auch gleichzeitig mehrere Bedeutungszuschreibungen zu den Aktivitäten möglich: z. B. kann der Klient davon ausgehen, daß man sich in der Beratung in der Anamnesephase befindet, während der Berater schon darauf drängt, Schlußfolgerungen aus den erhobenen Daten zu ziehen. Es empfiehlt sich in sozialer Praxis deshalb, zu markieren, in welcher Phase der Praxis man sich jeweils befindet. Im Laufe der Zeit, werden sich hier gemeinsame Vorstellungen entwickeln, die solche verbalen Sequenzierungen erübrigen.
Für die Triadiker gibt es die Notwendigkeit, nicht nur Prozesse, sondern die Relationen zwischen den Handelnden/Beobachtenden und diesen Prozessen zu berücksichtigen.

Das triadische Konzept will sowohl bei den Handelnden als auch nachträglich in der Reflexion der Praxis die Fähigkeit einerseits zur Standpunktklärung und andererseits zur Oszillation zwischen den durch das Modell begrenzten weiteren Standpunkten fördern. Im Gegensatz zum Alltag geht es nicht darum, beliebig viele, sondern eben nur die durch das Modell vorgegebenen Standpunkte einzunehmen.
Im Hinterkopf bleiben bei der triadischen Prozeßanalyse immer die jeweils nicht gewählten Möglichkeiten. Verstanden ist der Prozeß letztlich erst, wenn alle drei durch die Prozeßtypen definierten Perspektiven eingenommen und sich die Ergebnisse der Betrachtungen zu einem Gesamtbild gefügt haben.

Die Anwendung struktureller Triaden in der sozialen Beratungspraxis

Die Beratungspraxis läßt sich nicht befriedigend mit ausschließlich dynamischen Triaden gestalten und verstehen. Sie besitzt auch eine Architektur, stellt Beziehungen zwischen Menschen, in welcher Emergenzform auch immer her. Es gibt viele architektonische Triaden, ihnen ist gemeinsam, daß sie jeweils Beziehungen zwischen drei Faktoren modellieren.
Erste Aufgabe bei der Anwendung von Triaden für eine soziale Praxis ist es immer, zu klären, welche Klasse der Praxis zunächst im Vordergrund stehen soll.
Das NTD kann Beratungen entweder als individuelle oder als soziale oder als kulturelle Praxis begreifen und wird diese Perspektiven immer wieder zueinander in Beziehung setzen. Als soziale Praxis sind wir mit mindestens zwei autonomen Subjekten konfrontiert, die üblicherweise binär schematisiert - als Berater/Therapeut und Klient/Patient - werden. (In der individuellen Praxis wird der Klient zum Objekt der Aktivitäten des Beratersubjekts.)
Nach triadischem Verständnis ergibt sich die strukturelle Komplexität der sozialen Beratungspraxis aus dem Zusammenspiel von einerseits Beratern, andererseits Klienten und schließlich drittens dem Auftraggeber. D.h. es wird die binäre Rollenzuschreibung aufgebrochen und eine dritte Größe explizit berücksichtigt, die zwar immer schon eine Rolle gespielt hat, aber in den Modellierungen der Fachliteratur weniger beachtet oder jedenfalls an anderer, untergeordneter Stelle behandelt wird.

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Abb.: Die Architektur des Beratungssystems
Auch die Faktoren dieser Basistriaden lassen sich wieder strukturell zu Triaden ausdifferenzieren. So baut sich der Klient in Karriereberatungen in den Augen des Beraters/der Beraterin aus biographischen Ressourcen, seiner beruflichen Qualifikation und seiner Funktion in seinem Arbeitsbereich auf. Ähnliche Selbstbeschreibungen der eigenen Komplexität eignen sich auch für den Berater und für den Auftraggeber. Auf diese Weise lassen sich Triadentrias® der Beratungssysteme bilden. Ebenso ist es möglich, die im Architekturmodell aufgeführten Faktoren des Beratungsklienten im empirischen Fall zu einer Triadentrias auszubauen, indem bspw. die drei jeweils konstitutiven Funktionen, professionelle Qualifikationen und biographischen Einflüsse herausgearbeitet werden.

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Abb.: Ein triadisches Konzept des Beratungsklienten

Prämierungen der Faktoren des Architekturmodells als Kriterium für die Ausdifferenzierung der Beratungsformate

Die verschiedenen Beratungsformen lassen sich dann danach unterscheiden, welche Prämierung sie zwischen den einzelnen Faktoren der Triade vornehmen. In herkömmlichen tiefenpsychologischen Therapien steht etwa der biographische Hintergrund des Klienten (Person) einschließlich seiner Familiengeschichte im Vordergrund. Ohne die Klärung der Position des Klienten im Familiensystem, wiederkehrende Beziehungsmuster im privaten Leben usf. geht es dort nicht ab. In Supervisonen und Praxisanleitungen werden professionelle Kompetenzen stärker berücksichtigen. Die Klienten werden als Fachfrauen bzw. -männer auf ihren jeweiligen Gebieten typisiert und das Ziel ist es, das fachliche Handeln zu verbessern. Dazu bedarf es selbstverständlich auch der Würdigung der biographischen Ressourcen und Widerstände (Person) und der jeweiligen funktionalen Rahmenbedingungen. Beim Coaching hat man sich demgegenüber darauf geeinigt, die Funktionen des Klienten in seinem beruflichen Umfeld in den Mittelpunkt der Gespräche zu stellen. Tauchen Konflikte auf, so werden sie nicht zunächst der Person und auch nicht Mängeln im professionellen Handeln, sondern eben der Position des Klienten in der Organisation zugeschrieben. Erst, wenn sich aus dieser Perspektive keine befriedigenden Deutungen finden lassen, werden die anderen Faktoren thematisiert. Unter Umständen empfiehlt es sich, wenn solche Abweichungen von der dominanten Orientierung häufiger auftreten, das Setting der Coaching-Beratung zu wechseln und etwa eine Supervision zu beginnen.
Besondere Anforderungen an BeraterIn und KlientIn stellt die Karriereberatung, weil hier von vornherein nicht ein einzelner Faktor, sondern die Beziehung zwischen den Faktoren im Mittelpunkt steht. Es geht um die wechselnden Balancen, die sich in der historischen Dimension ausmachen lassen.
Das Persönlichkeits- bzw. Klientenmodell kann zu einer Triadentrias differenziert werden, indem festgelegt wird, in welchem Beratungskontext diese Persönlichkeit als was auftritt. In dem Buch ‘Triadische Karriereberatung. Modelle und Programme der Beratung von Fach- und Führungskräften’ (Habilitationsschrift, Bergisch-Gladbach 2007) hat Kornelia Rappe-Giesecke in diesem Sinne genaue Modelle über den Supervisions-, Coaching- und den Karriereberatungsklienten entwickelt.

Triadische Persönlichkeitsmodelle

Es ist nicht nur in Beratungskontexten sinnvoll, das berufliche Handeln als emergentes Produkt des Handelns als Person, als Funktionsträger und als Angehöriger einer Profession zu verstehen und das Zusammenwirken der drei Dimensionen zu analysieren. Vielmehr bietet diese Triade einen guten Einstieg in die Modellierung der menschlichen Persönlichkeit in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft.
Der Mensch in der modernen Industriegesellschaft ist gezwungen, zugleich und im abrupten Nacheinander vielfältige Rollen zu übernehmen, sich in widersprüchlichen Wertesystemen zu bewegen, seine begrenzten körperlichen, sozialen und psychischen Ressourcen zwischen vielen Sozialsystemen und Personen aufzuteilen. Er steht immer zugleich in artverschiedener Praxis und hat es entsprechend mit mehrdeutigen Objekten zu tun. Je nach der aktuell fokussierten Praxis bestimmt sich auch seine Selbsttypisierung - die also auch oszilliert.
Weder die Individuen noch die sozialen Gemeinschaften können dabei ihre Entscheidungen auf einige wenige Grundwerte (Homogenitätsideal) stützen, noch lassen sich die Anforderungen durch funktionale oder hierarchische Differenzierung der Aufgaben erreichen. Ersteres führt zu Intoleranz und Fundamentalismus, letzteres zur Fragmentierung und Lähmung, beides zusammen untergräbt die Identität - sowohl der Personen als auch der Praxisarten. Triadische Persönlichkeitskonzepte und die Anwendung von ökologischen Prinzipien auf die menschliche Informationsverarbeitung eröffnen neue Perspektiven für die Bewältigung dieser Anforderungen. Die Identität der Persönlichkeit emergiert dann erst aus dem Zusammenwirken von Komponenten. Statt einzelner Faktoren steht die Balance zwischen mehreren Faktoren im Mittelpunkt. Die Konzepte von Beziehung oder Verhältnis erhalten von vornherein große Bedeutung. Dabei geht die Annahme von drei Faktoren über alle interaktiven binären Modelle hinaus. Es stehen keine Zweierbeziehungen sondern Strukturen zur Debatte.
Diese Auffassung ist nicht neu, und sie hat prominente Vertreter, wie z. B. Sigmund Freud oder Karl Marx, aber ihre Umsetzung scheint unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen dringlicher zu werden. Es besteht dabei wenig Anlaß, nur die sogenannte ‘work-live’-Balance zu berücksichtigen. Natürlich bleibt als entscheidende Frage immer, welche Faktoren als Relata in den Beziehungsstrukturen auszuwählen sind.
Die Entscheidung darüber, welche Seiten einer Person den maximalen Einfluß auf ihr Handeln und Erleben z. B. im Coaching ausüben, kann letztlich nur aufgrund langer reflektierter Erfahrung bzw. gründlicher empirischer Studien getroffen werden.
In dem Maße, in dem man hier ins Detail geht, wird sich die Basistriade zu einer komplexen Triadentrias® ausbauen lassen. Dies gilt nicht nur für Beratungskontexte. In Fallstudien lassen sich mit dem elementaren Persönlichkeitsmodell auch konkrete Individuen im Alltag erfassen. Allen biographischen Rekonstruktionen, seien sie nun in Buchform ausgedehnt oder nur als unmittelbarer Eindruck in Gesprächsbeiträgen formuliert, liegen letztlich mehr oder weniger stabile Erwartungen über die betreffende Person zugrunde. Triadische Biographiekonzepte können zur Ausbuchstabierung solcher Erwartungen beitragen – und in therapeutischen Kontexten die Selbstreflexion der Klienten stimulieren und ordnen. Sie geben dem Berater Hinweise, in welche Richtungen er fragen kann, welche Seiten der Persönlichkeit noch zu wenig zu sprechen begonnen haben usf. Vor diesem Hintergrund kann nur erstaunen, wie wenig reflektiert die biographischen Modelle häufig sind, die bei der Niederschrift von Biographien bzw. bei der Betrachtung zugrunde liegen.
Auch in diesem Fall zeigt sich die Überlegenheit des triadischen Ansatzes darin, daß er nicht nach dem Entweder-Oder-Prinzip den einen Faktor zum alleinigen Definitionsmerkmal macht. Es geht hier um Gewichtungen. Übernehmen Berater (und Klienten) diese Sichtweise, fällt es leichter, auch die immer vorhandenen nicht prämierten Faktoren zu berücksichtigen. Es wird eine größere Komplexität ermöglicht, weil statt Ausgrenzungen eine Parallelverarbeitung und Prämierungen das Beratungssystem strukturieren. Die Orientierung an Triaden als Vergleichsmaßstab für die Phänomene in unsrer Umwelt ist alles andere als praxisfernes Theoretisieren. Sie bietet unmittelbare Orientierung und Handlungsanleitungen, die sich meist dadurch auszeichnen, daß übliche Frontstellungen und Ausgrenzungen vermieden werden.

anwendung_ntd, id1520, letzte Änderung: 2022-02-27 19:22:45

© 2023 Prof. Dr. phil. habil. Michael Giesecke